Hans Göppinger hat das Selbstverständnis und die Besonderheiten der Kriminologie in Tübingen im Jahr 1984 in einem Vorwort zu einem Forschungsbericht der Universität Tübingen im Rückblick auf die in 22 Jahren gewonnenen Erfahrungen wie folgt beschrieben:
"Die Kriminologie wird als eine unmittelbare Erfahrungswissenschaft verstanden, bei der der Täter in seinen sozialen Bezügen im Mittelpunkt steht, da nun einmal nur der konkrete Mensch ein Delikt begehen kann. Will man sich klarmachen, warum der Täter den zentralen Bezugspunkt der Kriminologie darstellen muß, erscheint ein Vergleich mit der Medizin - bei aller Verschiedenheit der Gegenstände - nützlich. Wie es Anliegen der Medizin ist, Kranke zu heilen und Erkrankungen vorzubeugen, wozu wiederum klare Diagnosen im Einzelfall auf dem Boden eines gediegenen Grundlagenwissens Voraussetzung sind, so ist es Sache der Kriminologie, sich zunächst ein Grundlagenwissen über den Täter in seinen sozialen Bezügen anzueignen, Methoden der diagnostischen Erfassung zu schaffen und dann durch Sanktionen und Therapie entsprechend einzuwirken. Auch für die Prophylaxe ist ein Wissen um konkrete Zusammenhänge der Kriminalität notwendig, nicht anders als bei der Medizin bezüglich der Krankheit."
Mit dieser eindeutigen Täterorientierung wurden jedoch sozialwissenschaftliche Erkenntnismöglichkeiten nicht ausgeschlossen. Täterorientierung bedeutete also nicht notwendigerweise eine Verengung des Forschungsgegenstandes, sondern eher eine Konzentration auf den Schwerpunkt "Mensch" in seinen Verflechtungen und Abhängigkeiten. Andere kriminologische Fragestellungen wurden nicht ausgeblendet oder generell für unwichtig erklärt, vielmehr eben fokussiert auf die Frage, was sie zum Verständnis der Verbrechenswirklichkeit im Leben einzelner Täter in ihren je persönlich geprägten sozialen Bezügen beitragen können. So gehörten, dies zeigen zahlreiche Publikationen aus dem Institut, durchaus auch makrosoziale Fragestellungen, wie "Gesellschaft und Kriminalität" oder "Entwicklung und Sanktionierung der Jugendkriminalität" zum Gegenstandsbereich des Forschungsinteresses. Sie wurden aber, weil und insofern sie sich mit Gegenstand und Anliegen verschiedenster anderer Wissenschaftsdisziplinen überschneiden, nicht dem Kernbereich einer selbständigen erfahrungswissenschaftlichen Kriminologie zugeordnet.
Die unvermeidlichen Abgrenzungsprobleme zwischen der Kriminologie und ihren Bezugswissenschaften waren deshalb für Göppinger nicht sonderlich erheblich. Denn seine Definition der Kriminologie verband die Breite des Blickfelds mit der Konzentration auf einen einzigen Kern: Kriminologie ist danach eine empirische interdisziplinäre Wissenschaft, die sich vor dem Hintergrund eines multifaktoriellen Ansatzes mit den im menschlichen und gesellschaftlichen Bereich liegenden Umständen, mit dem Zustandekommen, der Begehung und der Verhinderung von Verbrechen sowie mit der Behandlung von Rechtsbrechern befaßt.
In konsequenter Ausrichtung der Forschungen an dieser Leitlinie wurde eine von vornherein auf längere Dauer angelegte Studie in den Mittelpunkt der Forschungstätigkeit gestellt und von einem größeren, interdisziplinär zusammengesetzten Team durchgeführt: Die Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung (TJVU) . Dazu fügte sich harmonisch die in konsequenter Einzelfallorientierung und fortlaufender Verfeinerung entwickelte Methode der idealtypisch vergleichenden Einzelfallanalyse. Unter Auswertung von zusätzlichen Erfahrungen aus ständigen forensischen Begutachtungen im Auftrag von Staatsanwaltschaften und Gerichten wurde diese Methode entwickelt, um kriminologische Analysen von Tätern in ihren sozialen Bezügen gerade im Kernfeld der Kriminologie, d.h. außerhalb der typisch forensisch-psychiatrischen oder forensisch-psychologischen Fragestellungen (wie Schuldfähigkeit oder Glaubwürdigkeit) zu ermöglichen ("Angewandte Kriminologie ").
Um die Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung gruppierten sich weitere Untersuchungen sowohl zur Straffälligkeit als auch zu strafrechtlichen Reaktionen (z.B. über Kinderdelinquenz, weibliche Straftäter, Prostituierte, Untersuchungshaft, Wertorientierung und Einzelkriterien im Zusammenhang mit der Straffälligkeit).
Schon vor dem Wechsel im Amt des Direktors 1986 war die Bedeutung der TJVU rein quantitativ betrachtet etwas in den Hintergrund getreten, was auch mit zunehmenden Schwierigkeiten zusammenhing, im Rahmen der Veränderungen an den Universitäten in den 70er Jahren ein komplexes interdisziplinäres Team in hinreichender Größe erhalten bzw. zusammenhalten zu können. Zudem wechselten Mitarbeiter der ersten Stunde, die noch alle wesentlichen Details des Anfangs ganz persönlich und damit unmittelbar forschungswirksam "präsent" hatten, entweder in die Praxis oder im Rahmen der wissenschaftlichen Karriere an andere Universitäten. In den 80er Jahren kamen verstärkt Datenschutzhemmnisse hinzu. Dennoch konnte 1987 mit den TJVU-Probanden eine Nachuntersuchung begonnen werden .
Heute sind nicht mehr alle wissenschaftlichen Mitarbeiter in die TJVU eingebunden. Dieser Umstand deutet auch darauf hin, daß mittlerweile bei Wahrung der Traditionslinien des Tübinger Instituts einige der nicht über die Täterpersönlichkeit definierten kriminologischen Fragestellungen in das Zentrum des Forschungsinteresses gerückt sind. Die Modifikationen gehen in Teilen auf Projekte zurück, die der jetzige Direktor bereits bei seiner ersten Tätigkeit im Institut (ab 1965 als Student und 1968 ff. als Assistent) begonnen hat und nach wie vor als wichtig erachtet. In Teilen handelt es sich um eine Ausweitung des Blicks von der klassischen Tübinger Kriminologie auf ähnliche Forschungen im Ausland. In wieder anderen Teilen geht es darum, neben der Intensivierung der Grundlagenforschung mit Mitteln der modernen empirischen Sozialforschung, auch kurzfristiger angelegte Projekte im Bereich der Praxisforschung per Auftrag durchzuführen.
In all diesen Projekten arbeiten mehrere Forscher und ggf. Hilfskräfte in kleinen Gruppen zusammen, wobei es vorkommen kann, daß eine Person sich an mehr als einem Projekt beteiligt. Neben der TJVU werden derzeit folgende Projekte durchgeführt:
Weitere Studien werden von einzelnen Forschern durchgeführt. Es kann dabei einen Zusammenhang mit akademischen Qualifikationen (Promotion, Habilitation) geben, jedoch ist dies weder notwendig noch faktisch in jeder Lage der Fall.
Institut für Kriminologie - Stand 27. November 1996 - ifk@uni-tuebingen.de(ifk@uni-tuebingen.de)